Die agilen Prinzipien und Methoden werden oft als Allheilmittel beim Bewältigen der Herausforderungen, vor denen die Unternehmen in der VUKA-Welt stehen, präsentiert. Agilität bei der Strategieumsetzung zeigt sich jedoch gerade in einem differenzierten Vorgehen.
Ist ein Übertragen der agilen Arbeitsweisen und -methoden auf ganze Unternehmen oder zumindest weite Teile hiervon möglich und sinnvoll ist? Über diese Frage wird aktuell unter dem Stichwort „Agile Skalierung“ in der Management- und Beraterszene lebhaft diskutiert.
Um sie zu beantworten, sollte man sich zunächst vor Augen führen, was die zentralen Prinzipien der agilen Methoden sind, die ihre Wurzeln fast alle in der Softwareentwicklung haben:
- Eine konsequente Ausrichtung der Projekt- und Alltagsarbeit auf die Bedürfnisse der Kunden.
- Eine weitgehende Übertragung der Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter bzw. Teams, so dass diese eigenverantwortlich handeln können, und eine entsprechende Führung.
- Eine bereichs- und funktionsübergreifende Zusammenarbeit z.B. in Scrum- oder Entwicklerteams, in denen alle nötigen Kompetenzen vertreten sind, um das übergeordnete Ziel zu erreichen.
- Eine inkrementelle Arbeitsweise, bei der größere und komplexere Vorhaben, nicht vorab im Detail, sondern schrittweise, in sogenannten Sprints geplant werden und den Kunden im Prozessverlauf regelmäßig Inkremente – also (Teil-)Lösungen – ausgeliefert werden.
- Ein iteratives Vorgehen, bei dem in den Gesamtprozess Reflexionsschleifen eingebaut sind, um aus den gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnissen Schlüsse für das weitere Vorgehen zu ziehen.
Alter Wein in neuen Schläuchen?
Dies sind die zentralen Prinzipien einer agilen Arbeitsweise bzw. eines agilen Projektmanagements. Doch sind diese neu? Die konsequente Ausrichtung der Projekt- und Alltagsarbeit auf die Bedürfnisse der Kunden ist es nicht! Sie wird in allen Managementsystemen propagiert, die in den letzten Jahrzehnten en vogue waren – unabhängig davon, ob diese KVP, TQM, Kaizen, Six Sigma oder Lean Management hießen. Ähnlich verhält es sich bezogen auf die geforderte Übertragung der relevanten Entscheidungsbefugnisse auf die Mitarbeiter bzw. Teams. Auch sie ist ein zentrales Element aller vorgenannten Managementsysteme ebenso wie die Forderung: Die Führung muss sich ändern; die Führungskräfte müssen sich als Befähiger und Ermächtiger ihrer Mitarbeiter verstehen. Auch diesbezüglich wurden in vielen Unternehmen schon zahlreiche Initiativen ergriffen. Inwieweit sie Früchte trugen, ist eine andere Frage.
Zerrbilder von Führung wirken kontraproduktiv
Ungeachtet dessen sollte man diese Historie vor Augen haben, wenn es um das Thema Agile Skalierung in größeren gewachsenen Organisationen geht. Denn nicht selten malen die Propagandisten der agilen Methoden zum Beispiel ein Zerrbild von Führung an die Wand, das rein auf dem Befehl-Gehorsam-Prinzip basiert, und betonen: „Der Mindset muss sich grundsätzlich ändern.“ Ähnlich verhält es sich bezogen auf die Zusammenarbeit.
Solche Zerrbilder sind zwar plakativ, jedoch nicht zielführend, wenn es um das Thema Kulturwandel geht, denn sie desavouieren die Leistung sowie die in der Vergangenheit bereits gezeigte Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft der Mitarbeiter. Sie verkennen zudem die realen Ursachen, warum gerade Führungskräfte auf der unteren und mittleren Ebene im Betriebsalltag zuweilen ein autoritäres oder autoritär wirkendes Verhalten zeigen. Dies liegt eher selten daran, dass sie „autoritäre Charaktere“ sind; weit häufiger ist die Ursache: Aufgrund ihrer Sandwich-Position stehen sie, zumindest gefühlt, unter einem so hohen Leistungsdruck, dass sie sich nicht anders zu helfen wissen – auch aufgrund von Kompetenzdefiziten im Bereich Führung.
Und wie sieht es bezüglich der bereichs- und funktionsübergreifenden Zusammen- und Teamarbeit aus? Dass hier in vielen Unternehmen noch ein großes „Optimierungspotenzial“ besteht, belegen viele Studien. Zwar wird eine solche Kooperation oft gefordert, doch faktisch wurde in den meisten Unternehmen primär die Zusammen- und Teamarbeit in den einzelnen Bereichen optimiert. Hier ruhen denn auch noch viele ungenutzte Potenziale, wenn es um das Steigern der Agilität, also Reaktionsgeschwindigkeit und Effektivität der Unternehmen geht.
Inkrementelles Vorgehen ist oft nicht möglich
Und wie sieht es bezüglich der inkrementellen Arbeitsweise aus, bei der den Kunden im Prozess- bzw. Projektverlauf regelmäßig sogenannte Inkremente ausgeliefert werden? Sie wäre bei komplexeren Vorhaben und Projekten durchaus erstrebenswert. Doch ist sie in allen Branchen und Unternehmensbereichen realisierbar?
Bei der Entwicklung und Produktion von Software ja. Ein Softwareunternehmen oder der IT-Bereich eines Unternehmens kann an seine Kunden die Alpha-Version einer Software ausliefern (zumal diese als digitales Produkt leicht distribuierbar ist) und zu ihnen sagen: „Arbeitet schon mal damit und sammelt damit Erfahrung; die Beta-Version wird dann auch die Funktionen a, b und c enthalten.“ Und wenn im laufenden Betrieb bei den Kunden schwerwiegende Bugs auftreten? Dann ist dies kein Problem, denn in den meisten Großunternehmen ist es beim Einführen einer neuen systemrelevanten Software üblich: Die alte und die neue Software laufen einige Zeit parallel, um zu vermeiden, dass ein folgenschwerer Bug den gesamten Betrieb lahmlegt.
Anders ist dies bei einem Autoproduzenten Er kann zu seinen Kunden nicht sagen: Ich liefere euch schon mal den Motor – zum Ausprobieren. In drei Monaten folgen dann die Kupplung und Bremse und in sechs Monaten die Karosserie.“ Ebenso kann er sich Bugs beim Betrieb nicht leisten – zumindest wenn er teure Rückrufaktionen und Schadensersatzklagen vermeiden möchte. Insofern stellt sich bei der Produktion von Autos, oder allgemein bei der Produktion industriell gefertigter (Massen-)Produkte die Frage,
- inwieweit ist bei ihr eine inkrementelle Arbeitsweise überhaupt möglich (und nötig) bzw.
- was heißt agiles Arbeiten in diesem Kontext überhaupt oder in welchen Verhaltensweisen zeigt es sich.
Iteratives Vorgehen ist auch nicht neu
Bliebe als letztes Prinzip das iterative, schrittweise Vorgehen, bei dem bei komplexen Vorhaben in den Prozess Reflexionsschleifen eingebaut sind, um aus den gewonnenen Erkenntnissen Schlüsse für das weitere Vorgehen zu ziehen? Auch dieses ist nicht neu! Wozu dienten denn in der Vergangenheit die Meilensteine in den Projekten der Unternehmen? Unter anderem dazu, um bei ihrem (Nicht-)Erreichen zu überprüfen: Sind wir (noch) auf dem richtigen Weg das übergeordnete Ziel zu erreichen oder sollten wir Änderungen an unserer Planung vornehmen? Ein Projektmanager bzw. Projektteam, das dies nicht tat, nahm – salopp formuliert – seinen Job nicht wahr.
Ähnlich verhielt es sich im B2B-Vertrieb, wenn ein Vertriebsteam nicht selten in monate-, teils sogar jahrelanger mühsamer Kleinarbeit versuchte, beispielsweise eine Maschinenanlage zu verkaufen. Dann waren in diesen Prozess selbstverständlich Reflexionsschleifen eingebaut, in denen sich die Mitglieder des Vertriebsteams zum Beispiel fragten: Welche neuen Erkenntnisse haben wir bei unserem jüngsten Meeting mit dem Buying-Team auf der Kundenseite gewonnen? Was heißt dies für unser weiteres strategisches und taktisches Vorgehen? Und…? Ein Vertriebsteam bzw. ein Vertriebsleiter, der dies mit seinem Team nicht tat, war schlicht unfähig … und gewiss auch nicht sehr erfolgreich.
Weil es solche Führungskräfte (und Projektleiter) vereinzelt noch gibt, jedoch allen Führungskräften indirekt zu unterstellen, ihr Mindset und ihr Führungsverhalten seien antiquiert, ist arrogant. Es ist zudem kontraproduktiv, denn: Ein Steigern der Agilität eines Unternehmens ist nur mit den betroffenen Mitarbeitern möglich. Also müssen diese als Mitstreiter gewonnen werden. Dies gelingt nicht, indem man zu ihnen sagt „Ihr habt bisher alles falsch gemacht; Euer Mindset muss sich radikal verändern“, sondern indem man zum Beispiel als Führungskraft oder Projektmanager
- ihre bereits vorhandenen zielführenden Verhaltensweisen lobt und verstärkt,
- sie dazu motiviert und inspiriert, ihre nicht zielführenden Einstellungen und Verhaltensmuster zu überdenken, und
- die erforderlichen Rahmenbedingungen schafft, dass sie neue, zielführende Verhaltensweisen zeigen (können).
Hierin zeigt sich letztlich, ob eine Führungskraft ein Ermächtiger und Befähiger ihrer Mitarbeiter ist.
Bei agiler Skalierung differenziert vorgehen
Doch wie sollten Unternehmen nun vorgehen, die erwägen, in weiten Teilen ihrer Organisation die agilen Methoden einzuführen? In der Regel befassen sich Unternehmen mit diesem Thema erst, nachdem sie in ihrer Organisation bereits in ein, zwei Bereichen – zum Beispiel der IT oder Produktentwicklung – positive Erfahrungen mit dieser Arbeitsweise gesammelt haben. Das ist gut so! Denn dann existieren schon Mitarbeiter, die ihren Kollegen von ihren Erfahrungen mit den agilen Methoden berichten können.
Besteht diese Ausgangssituation kann das Thema Agile Skalierung in Angriff genommen werden. Ein erster Schritt in diese Richtung kann es sein, Workshops mit den Entscheidern aus den angedachten Bereichen durchzuführen. Diese können wie folgt konzipiert sein: Zunächst erläutern Vertreter des Managements, warum sich das Unternehmen überhaupt mit dem Thema Agile Skalierung befasst und was es sich von einer Steigerung der Agilität verspricht. Danach schildern Experten an Praxisbeispielen die Prinzipien einer agilen Arbeitsweise, bevor Kollegen aus den Bereichen, die bereits agil arbeiten, über ihre Erfahrungen mit den neuen Methoden berichten.
Nachdem so ein gewisses agiles Bewusstsein geschaffen wurde, kann mit den Vertretern der Bereiche ermittelt werden:
- Inwieweit in ihren Bereichen das Einführen agiler Arbeitsweisen überhaupt sinnvoll und zielführend wäre?
- Wenn ja, worin zeigt sich die gewünschte Agilität bei der Alltagsarbeit und auf welche Handlungsfelder bezieht sie sich?
- Welche Veränderungen auf der Kultur- und Strukturebene sowie Einstellungs- und Verhaltensebene sind nötig, um die angestrebte Veränderung zu erreichen? Und:
- Auf welche in der Vergangenheit ergriffenen Initiativen kann aufgebaut werden, um das angestrebte Ziel zu erreichen?
Einen Entwicklungsplan für jeden Bereich entwerfen
Die Ergebnisse der Workshops können bezogen auf die einzelnen Bereiche sehr verschieden sein. Dabei gilt die Faustregel:
- Je komplexer die Leistungen sind, die ein Bereich oder Team für das Unternehmen bzw. die (internen oder externen) Kunden erbringt, und
- je mehr externe Einflussfaktoren dabei zu berücksichtigen sind,
umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein agiles Arbeiten sinnvoll ist.
Das Ergebnis eines solchen Workshops kann zum Beispiel bezogen auf die weitgehend automatisierte Produktion eines Massengüterherstellers durchaus lauten: Ein Einführen der agilen Methoden in unserer Produktion lohnt sich nicht, denn in ihr geht es weitgehend darum, zuverlässig ein- und dasselbe Produkt zu produzieren, das den definierten Qualitätsstandards entspricht. Stattdessen sollten wir die bereits ergriffenen Initiativen im KVP- und Lean-Bereich intensivieren, die darauf abzielen, die Qualität der Leistung und den Kundennutzen kontinuierlich zu erhöhen. Darüber hinaus sollten wir das Bewusstsein der Mitarbeiter dafür schulen, warum ein agiles Verhalten in unserem von rascher Veränderung geprägten Markt nötig ist – unter anderem, damit sie mehr Verständnis dafür haben, wenn zum Beispiel die Vertriebsmitarbeiter sie immer wieder mit Sonderwünschen kontaktieren.
Bezogen auf die Produktentwicklung kann das Workshop-Ergebnis lauten: Hier sollten wir das agile Arbeiten forcieren, weil sich außer den Anforderungen der Kunden auch die technischen Möglichkeiten rasch ändern. Zudem sollten wir die Zusammenarbeit unserer Produktentwickler außer mit dem Vertrieb, auch mit unserem Service forcieren zum Beispiel durch entsprechende interdisziplinäre (Entwickler-)Teams, denn: Unsere Servicemitarbeiter bekommen bei ihren Kundenbesuchen am ehesten mit,
- was unsere Kunden an unseren Problemlösungen schätzen oder nicht und,
- wo bei ihnen neue Bedarfe entstehen.
Und bezogen auf den Vertrieb? Hier kann das Ergebnis lauten: Unsere Vertriebsmitarbeiter sind schon sehr agil im Markt unterwegs. Wir sollten jedoch über Informationssysteme nachdenken, die diese mit qualifizierten Marktdaten und Informationen darüber, bei welchen Kundengruppen neue Bedarfe entstehen könnten, versorgen, damit sie noch agiler und zielgerichteter bei ihrer Arbeit vorgehen können.
Die obigen Ausführungen sollen zeigen: Wenn es um das Thema „Agile Skalierung“ geht, ist es wenig sinnvoll, die betreffenden Methoden sozusagen mit der Gießkanne über die gesamte Organisation auszugießen. Dafür sind die Aufgaben der Bereiche und deren Ausgangsvoraussetzungen zu verschieden. Vielmehr gilt es, ein abgestimmtes Gesamtkonzept zu entwerfen, das ausgehend vom übergeordneten Ziel „Wir wollen als Unternehmen agiler im bzw. am Markt agieren“ die Arbeit in den einzelnen Bereichen sowie ihre Kooperation gezielt entwickelt – und hierbei können die agilen Arbeitsweisen und -methoden eine unterschiedliche Rolle spielen.
Das passende Framework wählen
Für die Agile Skalierung selbst, also das Einführen der agilen Methoden, werden im Markt verschiedene Frameworks, sprich Konzepte angeboten – zum Beispiel LeSS, Scrum@Scale und SAFe. Diese liefern alle keine Blaupause für das gesamte Unternehmen.
Dass in der gesamten Organisation, agile Strukturen geschaffen und die agilen Arbeitsweisen eingeführt werden, ist bei größeren Unternehmen, die – anders als manch Start-ups – keine reinen Entwicklungsorganisationen sind, jedoch auch meist nicht nötig. Unverzichtbar ist es jedoch bereichs- und hierarchieübergreifend ein gemeinsames Grundverständnis dafür, warum ein agiles Denken sowie eine interdisziplinäre und crossfunktionale Zusammenarbeit für das Entwickeln und Realisieren innovativer, komplexer Problemlösungen in einer von rascher Veränderung geprägten Welt nötig sind. Dieses Bewusstsein bzw. eine solche Kultur zu schaffen, gelingt in der Regel nur mit tatkräftiger Unterstützung der Unternehmensleitung.
Über die Autorin:
Dr. Daniela Kudernatsch ist Inhaberin der Unternehmensberatung KUDERNATSCH Consulting & Solutions in Straßlach bei München, die Unternehmen beim Umsetzen ihrer Strategie im Betriebsalltag unterstützt. Sie ist Autorin des Buch „Hoshin Kanri: Policy Deployment durch agile Strategieumsetzung“, von dem im April 2019 die 2. überarbeitete und erweiterte Auflage erschienen ist.