Züge und Flüge fallen aus, Restaurants und Bars schließen, wenn der Abend gerade richtig schön wird. Die Wartezeiten für Handwerker und andere Termine werden länger, kleinere Aufträge mitunter nicht einmal mehr angenommen. Der Fachkräftemangel zieht in unseren Alltag ein. Die Stimmung sinkt nicht nur bei den Kunden, sondern auch bei den verbleibenden Mitarbeitern, die völlig überlastet sind. Fehler häufen sich und mit ihnen Reklamationen. Schließlich geht der nächste Kollege. Ein Teufelskreis entsteht, der die Kraft hat, das ganze Unternehmen in den Abgrund zu reißen, wenn er nicht gestoppt wird. Aber was können Organisationen und Führungskräfte tun, um diese Entwicklung wirksam abzuwenden?
Auf der Suche nach passenden Antworten weisen fundierte Studien der wichtigsten Beratungsunternehmen seit Jahren in dieselbe Richtung: Die zum Bonmot gewordene Erkenntnis, dass Mitarbeiter zu Unternehmen kommen, aber ihre Führungskräfte verlassen, ist aktueller denn je. Die Hintergründe der Entwicklung sind vielschichtig: Digitale Entwicklung, gestiegene Transparenz, der Wandel zur Netzwerkgesellschaft, die VUCA-Welt, gekippte Fachkräftemärkte, die neue Macht der Angestellten im Zuge der demografischen Entwicklung, veränderte Werte und Ansprüche der jungen Generationen und viele weitere. Die Einflüsse sind komplex, die Auswirkungen lassen sich jedoch zu einem einfachen Satz verdichten:
Wer seine Mitarbeiter nicht wertschätzt, wird sie verlieren und immer seltener Ersatz finden.
Dabei gibt es ein Problem: Wertschätzung ist nicht gleich Wertschätzung! Was es braucht, sind keine oberflächlichen Lippenbekenntnisse oder zweckorientierte Hauruck-Maßnahmen, sondern tiefergehende Änderungen. Es benötigt nicht einfach Anerkennung, nette Worte, Respekt und mehr Geld, sondern eine menschlich echte und ehrliche Achtung! Sie ist die Grundlage für starke Beziehungen, vertieftes Vertrauen und die erfolgreiche Entwicklung gemeinschaftlicher Teams.
Wertschätzung: Die Grundlage starker Beziehungen
Die Frage, was Führung letztlich erfolgreich macht, ist so alt wie die Führung selbst. Für viele Argumente, Ansätze, Hypothesen und Persönlichkeitsmerkmale gibt es überzeugende Argumente, aber auch Gegenbeispiele, die Zweifel nähren. Ein Erfolgstreiber idealer Führung zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch die Suche, nämlich ihre Fähigkeit gute Beziehungen zu etablieren. Führung besteht zum größten Teil aus Kommunikation und bei dieser gibt es stets eine Sach- und eine Beziehungsebene. Nachhaltig erfolgreiche Führungskräfte haben auf einer tiefen Ebene verinnerlicht:
Wenn die Beziehung stimmt, ergibt sich der Rest in der Regel von selbst.
Weil es schlussendlich immer Menschen sind, die miteinander arbeiten, konzentrieren sich erfolgreiche Führungskräfte darauf, die Beziehung zu und zwischen ihren Mitarbeitern aufzubauen und so tragfähig wie möglich zu halten. Der Weg dazu ist Wertschätzung. Diese zeichnet sich durch Kontakt auf Augenhöhe aus, der dem Mitarbeiter bewusst als erwachsenen Partner begegnet und nicht als jemandem, den man kontrollieren und bevormunden muss. So banal das klingt, wird es vielerorts immer noch nicht gelebt: Mitarbeiter, die im Privaten Häuser bauen, Ehen schließen, Kinder großziehen, Weltreisen buchen und Autos kaufen, müssen sich im Betrieb für die banalsten Entscheidungen das Okay vom Chef einholen. Das bevormundet, bremst, impliziert Misstrauen und erstickt Agilität im Keim.
Der verzweifelte Ruf nach „Unternehmern im Unternehmen“, nach Mitarbeitern, die „Verantwortung übernehmen“, ist laut. Hat man sie schließlich gefunden, werden sie seit Dekaden herrschenden Regularien und Vorgaben unterworfen und zurechtgestutzt. Das ging früher oft gut und tut es bei schwachen Mitarbeitern auch heute noch – aber nicht bei High Potentials! In Zeiten, in denen gute Mitarbeiter attraktive Optionen haben, ziehen sie diese Karte irgendwann auch, wenn sie sich nicht wertgeschätzt fühlen. Die entstehenden Kosten von rund einem Jahresgehalt je ungeplanter Kündigung belasten die quantitativ und qualitativ geschwächte, verbliebene Belegschaft zusätzlich.
Unternehmen und Führungskräfte, die ihren Mitarbeitern auf Augenhöhe begegnen, die deren individuelle Stärken erheben und gemeinsam nach Möglichkeiten suchen, diese optimal im Sinne der Organisation und des Einzelnen zu entfalten, wertschätzen deren Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Entwicklung. Vorausgesetzt, der Hygienefaktor Gehalt wird auf einer grundlegenden Ebene bedient, ist die dadurch erreichte Bindung ans Unternehmen stärker als die dickste Lohnerhöhung.
In Bezug auf wertschätzende Führung lässt sich die alte Vertriebsweisheit, dass der Köder dem Fisch schmecken muss, auf Mitarbeiter übertragen. Je nach Persönlichkeit nehmen diese nämlich Anerkennung und Wertschätzung ganz unterschiedlich wahr. Sozialpsychologische Untersuchungen zeigen: Während sich der Eine anerkannt fühlt, wenn ihm geholfen wird, reagiert der Andere stärker auf gemeinsam verbrachte Zeit. Einem Dritten ist materielles Feedback wichtig und ein Vierter braucht explizit verbalisiertes Lob und Anerkennung. Diesen Unterschieden bewusst Rechnung zu tragen, ist nicht etwa manipulativ oder berechnend, sondern einfach empathisch und individuell wertschätzend, denn die Mitarbeiter fühlen sich auf einer tieferen Ebene gesehen und anerkannt.
Wertschätzung: Der Boden, auf dem Vertrauen gedeiht
Unsere Welt ist durch einen rasanten Wandel geprägt. Es fressen nicht mehr die Großen die Kleinen, sondern die Schnellen die Langsamen. Um mit dieser Beschleunigung Schritt zu halten, braucht es vor allem ein kritisches Element: Vertrauen. Dieses beschleunigt Prozesse und Abläufe und ist dadurch der Schmierstoff für gute Geschäfte und nachhaltigen Erfolg. Aber was zeichnet Vertrauen aus?
Der renommierte Psychologe Reinhard Haller beschreibt in seinem Bestseller „Das Wunder der Wertschätzung“ sieben Stufen, die den Begriff auszeichnen und sogar über ihn hinausführen: Aufeinander aufbauend sind dies Aufmerksamkeit, Achtsamkeit, Respekt, Anerkennung, Wertschätzung, Vertrauen bis hin zur Liebe.
Hallers Systematik zeigt, dass Vertrauen nur dann erreicht werden kann, wenn sich zuvor wertschätzend begegnet wird. Wertschätzung ist also der Boden, auf dem Vertrauen gedeiht. Sie achtet jeden Mitarbeiter in seinem Menschsein, so wie er ist. Sie begrüßt Unterschiede, wissend, dass sich nicht vorhersagen lässt, aus welchem Teil der Belegschaft der nächste innovative Gedanke wohl kommt. Wertschätzung lässt sich als tatsächlich gelebte Inklusion beschreiben. Sie errichtet über Gender-, Klassen-, Alters-, Zugehörigkeits- und Hierarchiegrenzen hinweg einen psychologisch sicheren Raum, in dem sich jeder angstfrei öffnen und sein Bestes zum Gelingen des großen Ganzen beisteuern kann.
Wertschätzung: Die Basis, die Teams zusammenschweißt
Für die komplexen Herausforderungen der VUCA-Welt braucht es innovative, vielschichtige und disziplinübergreifende Antworten, die nur noch sehr selten einzelnen Köpfen entspringen. Im Kern erfolgreicher Teams und Unternehmen stehen Kooperation und Gemeinschaft. Autoritäre Führung mit der sprichwörtlichen Peitsche mag zwar bei motorischen Tätigkeiten funktionieren, ist jedoch Gift für kreative Prozesse. Druck erzeugt Gegendruck, macht Kollegen zu Konkurrenten und erstickt den kreativen Flow im Keim.
Es geht nur miteinander und das Mittel der Wahl ist Sog. Dieser zieht die Gruppe zur gemeinsamen Arbeit hin, während Druck sie auseinandertreibt. Um durch Sog zu führen, müssen die Mitarbeiter zunächst als Individuen wertgeschätzt und jeder einzelne dort abgeholt werden, wo er steht. Dann wird die Gemeinschaft zusammengeführt. Dabei erreicht wertschätzende Führung die tieferliegenden Werte und Bedürfnisse der Mitarbeiter und wird dem sinnsuchenden und sozialen Kern menschlicher Wesen gerecht.
Gerade Letzteres ist mitunter nicht einfach. Wie Untersuchungen des Nextpractice Institutes[1] zeigen, hat sich unsere Gesellschaft in den vergangenen 10 Jahren in verschiedene Wertewelten aufgeteilt, denen zunehmend die gemeinsamen Schnittmengen verloren gehen.
Während beispielsweise 13 % den Sinn außerhalb der Arbeit suchen, wollen sich 10 % der Mitarbeiter bei der Arbeit selbst verwirklichen. Dass die Interessen und Positionen der beiden Lager durch die tieferliegenden Werte sich teils diametral entgegenstehen, liegt auf der Hand. Ebenso sind Konflikte vorprogrammiert, wenn 13 % danach streben, eine gute Balance zwischen Arbeit und Leben zu finden, es für andere 11 % dagegen das Wichtigste ist, engagiert Höchstleistung zu erbringen.
Wertschätzende Führung …
- erkennt diese Unterschiede und trägt ihnen bewusst Rechnung.
- erarbeitet Lösungen, die so individuell und verschieden sind wie ihre Mitarbeiter.
- begräbt Ansagen wie „da könnte ja jeder kommen“ oder „wo kämen wir denn da hin, wenn wir für jeden ein Extrasüppchen kochen würden“.
- versteht, dass sich die Gesellschaft, Werte, Zeiten und Menschen gewandelt haben und die alten Standardrezepte einfach nicht mehr allen übergestülpt werden können.
- stößt achtsame Diskurse über Unterschiede an, weil sie weiß, dass Werte in eben diesen gemeinsamen Diskursen entstehen und sich festigen.
Das alles bedeutet nicht etwa mehr Arbeit für die Führung, sondern vor allem eine andere Arbeit. Mit fantastischen Ergebnissen: In dem Maß, wie einzelne Mitarbeiter fühlen, dass sie sich so zeigen und entfalten können, wie sie wirklich sind und auf dieser Ebene zu einer starken Gemeinschaft zusammenwachsen, ergeben sich Produktivitäts-, Wachstums- und Kreativitätszuwächse, die jene herkömmlicher Kulturen um ein Vielfaches übertreffen. Eine Heidrick-Struggles-Consulting Studie[2] zeigte 2021, dass die Ergebnisse von Unternehmen, die bewusst die gemeinsame Kultur als Erfolgstreiber fokussieren, die Vergleichsgruppe, die weiterhin klassischen Paradigmen folgt, um mehr als das Doppelte übertreffen.
Fazit:
Wertschätzung wirkt zunächst weich und als Luxus, den man sich leisten kann, wenn alles ohnehin läuft wie geschmiert. In einer Gesellschaft, in der qualitative Unterschiede über Gedeih und Verderb entscheiden, gelten jedoch andere Regeln als in den Hamsterrädern der 80er. Echte Wertschätzung, die einer tieferliegenden Haltung entspringt, ist der Dünger für starke Beziehungen, tiefes Vertrauen und loyale Teams, die zu gedeihenden Mitarbeitern und Unternehmen heranwachsen.
[1] BMAS – Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2016): Wertewelten Arbeiten 4.0 – Vorabfassung. https://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/Forschungsberichte/fb-studie-wertewelten-a40.html
[2] Heidrick & Struggles (2021): Aligning Culture with the Bottom Line: How Companies Can Accelerate Progress. https://www.heidrick.com/en/insights/culture-shaping/Aligning-Culture-with-the-Bottom-Line-How-Companies-Can-Accelerate-Progress,
Buchtipp: Christian Bernhardt Echte Wertschätzung: Beziehungen stärken. Vertrauen vertiefen. Teams gemeinsam entwickeln.
Über den Autor:
Christian Bernhardt ist Dozent für nonverbale Kommunikation und Kommunikationspsychologie und Experte für Strategien gegen den Fachkräftemangel. Der Fachbuchautor hält Vorträge und Hybrid-Trainings zu den Themen Recruiting und Kommunikationskultur und berät Unternehmen in Deutschland und der Schweiz.