
Führungskräfte prägen die Arbeitsbedingungen ihrer Mitarbeiter. Sie haben zudem eine Vorbildungsfunktion für diese. Deshalb spielen sie in modernen Programmen zur betrieblichen Gesundheitsförderung eine Schlüsselrolle – auch in Corona-Zeiten.
Anfang 2019 stellte ein Versicherungskonzern fest: Die krankheitsbedingten Fehltage unserer Mitarbeiter im Vergleich zum Vorjahr gestiegen; insbesondere die psychischen und stress-bedingten Erkrankungen nahmen zu. Deshalb entschied das Unternehmen mit dem Machwürth Team International (MTI) eine Qualifizierungsinitiative zu starten, die darauf abzielt,
- das Gesundheitsbewusstsein der Mitarbeiter und deren Resilienz zu stärken und
- die Kompetenz der Führungskräfte, ihre Mitarbeiter gesundheitsorientiert zu führen, zu erhöhen.
Als Pilotbereich für das Projekt wählte die Versicherungsgesellschaft den Vertrieb, in dem fast 2000 Mitarbeiter im Außendienst und etwa 300 Mitarbeiter im Innendienst arbeiten. Aus folgenden Gründen: Die Außendienstmitarbeiter, die oft selbstständige Handelsvertreter sind, haben aufgrund ihrer Kundentermine recht unregelmäßige Arbeitszeiten und müssen ihren Arbeitsalltag selbst strukturieren. Und ihre Führungskräfte? Sie müssen die Mitarbeiter ihrer Vertriebsregion weitgehend aus der Ferne führen. Auch daraus resultieren besondere Anforderungen.
Ziele des (Pilot-)Projekts
Für das Projekt definierte der Konzern im Dialog mit MTI folgende Teilziele:
- das Gesundheitsbewusstsein der Mitarbeiter und ihrer Führungskräfte fördern,
- ihre Selbstführungskompetenz in Sachen Gesundheit erhöhen,
- ihre Motivation, regelmäßig Gesundheitssport zu treiben, erhöhen,
- ihr Ernährungsverhalten optimieren,
- ihre Kompetenz, Stress zu erkennen und zu bewältigen, erhöhen,
- ihre Gesundheitsrisiken minimieren,
- das aktive Gesundheitsmanagement forcieren und
- die Fehlzeitenquote senken.
Dabei war allen Beteiligten klar: Die Führungskräfte spielen in dem Projekt eine Schlüsselrolle, denn sie
- prägen die Rahmenbedingungen der Arbeit ihrer Mitarbeiter und
- haben eine Vorbildfunktion für diese.
Folglich können sie einen zentralen Beitrag zur Stärkung der Gesundheit und Förderung eines gesundheitsorientierten Verhaltens ihrer Mitarbeiter leisten.
Deshalb entschied das Projektteam: In dem Projekt soll den Führungskräften auch die Kompetenz zum Verankern des Themas Eigenverantwortung in Sachen Gesundheit in den Köpfen ihrer Mitarbeiter vermittelt werden. Also wurde in das Qualifizierungsprogramm für die Führungskräfte auch ein Modul integriert, bei dem diese lernen,
- ihre Führungs- und Vorbildfunktion in Sachen Gesundheit aktiv wahrzunehmen und
- einen regelmäßigen Dialog mit ihren Mitarbeiter über das Thema Gesundheit zu führen.
Das Qualifizierungsprogramm für die Führungskräfte
Der Versicherungskonzern entschied das letztlich beschlossene Konzept zunächst nur in einer Vertriebsregion mit 48 Führungskräften und 396 Mitarbeitern zu realisieren. Nach der Evaluierung dieses Pilotprojekts sollte über ein mögliches Roll-out entschieden werden.
Den Auftakt der Qualifizierungsinitiative bildeten im März 2019 vier zweitägige Veranstaltungen für jeweils ein Dutzend Führungskräfte. In ihnen wurde den Führungskräften unter anderem vermittelt, dass sie bezüglich der Gesundheitsförderung und -prävention in ihrem Bereich drei Funktionen haben:
- Vorbild für ihre Mitarbeiter und Multiplikator eines gesundheitsfördernden Verhaltens,
- „Kreatoren“ eines gesundheitsfördernden Arbeitsklimas in ihrem Bereich und
- Ansprechpartner der Mitarbeiter bei Gesundheitsthemen sowie Mit-Gestalter der betrieblichen Rahmenbedingungen.
Am ersten Tag lag der Fokus auf dem eigenen Gesundheitsverhalten, denn: Nur wer sich selbst gesund führt, kann auch andere Menschen gesund führen. Zum Einstieg reflektierten die Führungskräfte ihren Gesundheitszustand und wie sich die fünf Ebenen der Gesundheit wechselseitig beeinflussen.
Danach wurden in sechs Mini-Workshops die Grundlagen des Zusammenwirkens der verschiedenen Ebenen von Gesundheit vermittelt und vertieft. An jeder Station notierten die Teilnehmer für sie wichtige Erkenntnisse und formulierten unter Berücksichtigung der Leiter der Verantwortung die hieraus resultierenden Veränderungsimpulse für ihre Gesundheitsstrategie.
Ergänzend zu den Trainingseinheiten erhielt jede Führungskraft am Morgen des zweiten Tages ein 30-minütiges Gesundheitscoaching. Auf der Grundlage der mitgebrachten persönlichen Gesundheitsdaten wurde mit einem Arzt im Vier-Augen-Gespräch ihre aktuelle individuelle Gesundheitssituation analysiert. Aufgrund der Ergebnisse hierbei ergänzten die Führungskräfte mit dem ärztlichen Coach ihre Gesundheitsziele und -strategien. Am Abend trieben sie dann mit ihren Kollegen aktiv Sport oder lernten Entspannungsübungen kennen.
Führungssituationen analysiert und reflektiert
Am zweiten Tag lag der Schwerpunkt auf dem Thema „Gesund führen“. Die Führungskräfte reflektierten Situationen, in denen sie selbst Führung erlebten. Sie identifizierten Verhaltensweisen ihrer Führungskräfte,
- die sie selbst als kränkend und krank machend empfanden oder
- die ihre Leistungsmotivation und -fähigkeit minderten.
Danach erarbeiteten sie konkrete Verhaltensmaximen für eine gesunde Führung im eigenen Führungsalltag.
Im Spätsommer 2019, also circa ein halbes Jahr nach den Auftaktveranstaltungen, folgten eintägige Reflexionsseminare. In ihnen reflektierten die Führungskräfte im Kollegenkreis ihre Erfahrungen mit ihrer Gesundheitsstrategie in den zurückliegenden Monaten. Zudem ermittelten sie ihre persönlichen „Antreiber“ und machten sich ihre unbewussten Erwartungen an sich selbst und die Personen in ihrem Umfeld bewusst. In Trainingseinheiten wendeten sie zudem die Instrumente eines gesunden Führens auf konkrete Führungssituationen an. So erwarben die Führungskräfte Schritt für Schritt die Kompetenz, die Tools in ihrem „Werkzeugkoffer für gesunde Führung“ bei ihrer Führungsarbeit gezielt einzusetzen.
Das Qualifizierungsprogramm für die Mitarbeiter
Im Juni und Juli 2019 fanden eintägige Präsenzseminare für die Mitarbeiter unter der Überschrift „Gesundheit ist nicht alles, doch ohne Gesundheit ist alles nichts“ statt. Auf diese Veranstaltungen mit bis zu 80 Teilnehmern wurden die Mitarbeiter von ihren Führungskräften eingestimmt – mittels der Infos, die sie selbst in ihrer Auftaktveranstaltung erhalten hatten. In den Seminaren beschäftigten sich die Mitarbeiter ebenfalls mit den fünf Ebenen der Gesundheit und deren Zusammenspiel. Wie bei einem Zirkeltraining durchliefen sie verschiedene Stationen, an denen sie Wissenswertes über folgende Themen erfuhren:
- Ernährung,
- Bewegung,
- Schlaf und Entspannung,
- Selbstführung und Veränderung,
- Stress- und Beziehungsmanagement.
Anhand der hierbei gewonnenen Erkenntnisse entwarfen die Mitarbeiter wie zuvor ihre Führungskräfte ihre persönliche Gesundheitsstrategie.
Nach diesem Auftakt folgten in den anschließenden Monaten mit einem zeitlichen Abstand von sechs bis acht Wochen Intensiv-Workshops mit maximal 16 Teilnehmern. Dort reflektierten die Vertriebsmitarbeiter ihre bisherigen Erfahrungen beim Umsetzen ihrer Gesundheitsstrategie. Außerdem erhielten sie in selbst gewählten Trainingseinheiten weitere Impulse zu den fünf Dimensionen von Gesundheit.
Tools fördern die nachhaltige Umsetzung
Das nachhaltige Umsetzen der Gesundheitsstrategie wurde durch umfangreiche Maßnahmen seitens MTI unterstützt. So wurden zum Beispiel in einem Forum im Intranet des Versicherungskonzerns regelmäßig Lern- und Changeimpulse in Form von Erfolgsgeschichten, Podcasts, Readern, Videos, Checklisten usw. zur individuellen Nutzung publiziert.
Beim Umsetzen ihrer Gesundheitsstrategie werden die Mitarbeiter und Führungskräfte auch mit einer Coaching-App unterstützt. In ihr können sie ihre Erfahrungen und Fragen mit Coaches reflektieren. Sie können zudem individuelle Coachings mit einem MTI-Coach vereinbaren. Meist handelt es sich hierbei um Video-Coachings. Beim Buchen eines solchen Coachings können die Coachees vorab dessen Fokusthema bestimmen. Das System schlägt ihnen dann einen Spezialisten als Coach vor. Mit diesem vereinbaren sie einen Termin.
Das Programm wird corona-bedingt modifiziert
Um den Erfolg der Qualifizierungsinitiative zu evaluieren, wurde im November 2019, also circa drei Monate nach den letzten Präsenzseminaren, eine Mitarbeiterbefragung durchgeführt. Sie ergab: Über 90 Prozent der Mitarbeiter sind der Auffassung, dass ihre Führungskräfte, seit sie an dem Programm teilnahmen, stärker auf den Aspekt Gesundheit beim Führen achten. Eine Auswertung der Personalabteilung zeigte außerdem: Die krankheitsbedingten Fehltage sind gegenüber dem Vergleichszeitraum im Vorjahr um 11,8 Prozent gesunken. Deshalb entschied die Versicherungsgesellschaft Ende 2019, das Qualifizierungsprogramm 2020 weitgehend unverändert auch in anderen Unternehmensbereichen durchzuführen.
Dieses Vorhaben wurde im März 2020 corona-bedingt auf Eis gelegt, weil Lockdown-bedingt Präsenzseminare nicht mehr möglich waren. Das Versicherungsunternehmen beschloss jedoch, das Qualifizierungsprogramm in modifizierter Form fortzuführen, weil die Unternehmensleitung der Auffassung war: Gerade jetzt müssen wir an unsere verunsicherten Mitarbeiter das Signal senden „Euer Wohlbefinden ist uns wichtig“.
Aus der Ferne geführte Mitarbeiter stehen im Fokus
Zugleich wurden jedoch die Zielgruppen des Programms neu priorisiert. Die Unternehmensleitung entschied: Im Mittelpunkt sollen zunächst die Mitarbeiter nebst ihren Vorgesetzten stehen, die aus der Ferne virtuell geführt werden – unabhängig davon, ob sie Außendienst-Mitarbeiter oder Innendienst-Mitarbeiter im Homeoffice sind. Dies auch, weil die Verantwortlichen befürchteten: Wenn wir an diese Mitarbeiter nicht das Signal senden „Ihr seid uns wichtig“, besteht bei ihnen, wenn die Pandemie andauert, aufgrund der fehlenden persönlichen Treffen die Gefahr, dass ihre Bindung ans Unternehmen bröckelt.
Also wurde das Programm mit MTI-Unterstützung so umgestrickt, dass die
- Seminar-Module nun auch online stattfinden können und
- im Gesamtprogramm noch stärker die Situation der Mitarbeiter, die aus die Ferne geführt werden, berücksichtigt wird.
Zudem flossen in die Seminare für die Führungskräfte verstärkt praktische Erfahrungen aus dem Vertrieb ein, in dem auch schon vor Corona ein Großteil der Mitarbeiter (weitgehend) aus der Ferne geführt wurde – gemäß der Maxime: Vom Vertrieb lernen.
Dieses modifizierte Qualifizierungsprogramm läuft in dem Versicherungsunternehmen seit Mitte April 2020 und weil es bei der Belegschaft auf eine sehr positive Resonanz stößt, wird es auch 2021 fortgeführt.
Über die Autorin:
Sabine Machwürth ist Mitglied der Geschäftsleitung der international agierenden Managementberatung Machwürth Team International (MTI Consultancy), Visselhövede.