Welche Führung braucht es im agilen Unternehmen?

Welche Führung braucht es im agilen Unternehmen
Lesedauer: 4 Minuten

Der Begriff Agilität wird in der aktuellen Managementdiskussion inflationär gebraucht – auch weil vielen unklar ist, was er bedeutet: für die Unternehmen und ihre Mitarbeiter sowie deren Führungskräfte. Davon sind Katja von Bergen und Beat Schori von der Unternehmensberatung Dr. Kraus & Partner überzeugt.

? Frau von Bergen, Herr Schori, die agilen Verfahren wurden ursprünglich entwickelt, um bei der Softwareentwicklung Ziele schneller und effektiver zu erreichen. Inzwischen wird der Begriff Agilität für alles Mögliche verwendet. Warum wurde er so verwässert?

Katja von Bergen: Unter anderem, weil er oft falsch verstanden und verwendet wird.

?Inwiefern?

von Bergen: Solche agilen Frameworks wie Scrum wurden nicht nur entwickelt, um Ziele schneller zu erreichen. Sie stellen auch den Versuch dar, in Projekten zu realistischeren Einschätzungen zu gelangen, was bis wann erreichbar ist – unter anderem durch mehr Transparenz, ein besseres Teamwork und eine stärkere Reflexion der Leistung und Zusammenarbeit.

Beat Schori: Letztlich geht es darum, durch eine stärkere Fokussierung auf die Kundenbedürfnisse die Performance zu erhöhen. Schon in den 50ern zeigten Studien, was Hochleistungsteams ausmacht. Dieses Wissen wurde aber leider kaum angewendet.

Agile Frameworks sind kein Allheilmittel

? Warum?

Schori: Unter anderem, weil es – bildhaft gesprochen – nicht genügt, einer Person oder Organisation zu sagen, dass sie Grippe hat: Das Wissen allein macht sie nicht gesund. Es bedarf Lösungen bzw. einer Therapie. Agile Prinzipien und Praktiken sind hier ein guter Anfang.

von Bergen: Doch leider denken manche Unternehmen, die agilen Frameworks seien ein Allheilmittel. Deshalb stülpen sie diese über alle Prozesse, auch wenn dies keinen Sinn macht. Dies erzeugt oft Vorbehalte gegen eine agile Arbeitsweise.

? Es gibt viele Methoden, Projekte anzustoßen und durchzuführen. Was bedeutet es genau, Projekte agil anzugehen?

Schori: Unsere Praxiserfahrung zeigt: Agil-sein beginnt bei der Haltung und dem Mindset – also der Einstellung und den Werten. Um agil zu sein, bedarf es einer geistigen Beweglichkeit, denn die Zukunft, die nie Gegenwart ist, stellt die Unternehmen immer wieder vor neue Herausforderungen. Zugleich eröffnet sie ihnen aber Chancen. Diese zu nutzen, erfordert eine entsprechende Einstellung und Haltung.

von Bergen: Nach unserer Einschätzung macht das Mindset bei Projekten zur nachhaltigen Steigerung der Agilität von Unternehmen 80 Prozent des Erfolgs aus; nur 20 Prozent entfallen auf die Prozesse, Methoden und Tools. Man darf sie jedoch nicht vernachlässigen.

Neues Mindset muss verinnerlicht werden

? Warum?

Schori: Unter anderem damit die Führungskräfte und Mitarbeiter die nötigen Rahmenbedingungen und Werkzeuge zum agilen Arbeiten haben. Um hiermit arbeiten zu können, müssen sie jedoch auch neue Denk- und Verhaltensroutinen entwickeln. Das Rüstzeug hierfür kann man sich in Seminaren aneignen. Doch dann gilt es loszulaufen, im Prozess zu lernen und die „Learnings“ umzusetzen. Auch das erfordert einen adäquaten Rahmen – in dem unter anderem das regelmäßige Reflektieren des eigenen Vorgehens und Tuns, um daraus zu lernen, selbstverständlich ist.

von Bergen: Und hier sind dann auch die Führungskräfte stark gefragt. Ein Irrglauben wäre es anzunehmen, in einem agilen Umfeld sei Führung nicht nötig. Sie ist mehr denn je gefragt, sie muss sich jedoch ändern.

? Welches Vorgehen empfehlen Sie beim Aufsetzen von Projekten zum Steigern der Agilität?

von Bergen:  Zunächst sollte man prüfen, ob es sich wirklich um ein Projekt handelt – oder zum Beispiel nur um eine Prozessanpassung. Danach sollte geprüft werden, ob es für das geplante Projekt überhaupt sinnvoll ist, ein agiles Framework zu nutzen. Und wenn man sich dann entschieden hat, ein agiles Projekt zu initiieren, sollten alle Beteiligten dazu geschult werden. Und wenn sie das erste Mal in dieser Form arbeiten? Dann brauchen sie eine begleitende Unterstützung – zum Beispiel durch agile Coaches.

? Inzwischen winken viele Unternehmen ab, wenn man sie auf das Thema Agilität anspricht. Sie sagen „Die Methoden taugen nicht für die Praxis“. Was lief in ihnen falsch?

von Bergen: In der Regel waren ihre Erwartungen überzogen. Die Vorstellung, dass agile Frameworks alle Probleme lösen, ist naiv. Häufig bestehen in der Unternehmensspitze auch Vorbehalte gegen das agile Arbeiten, wenn diese realisiert: Es genügt hierfür nicht, neue Methoden einzuführen, vielmehr müssen alle top-down umdenken – also auch wir.

Schori: Die agile Transformation ist im Grunde nur ein Veränderungsanlass wie viele andere, allerdings derjenige mit der signifikantesten Wirkung auf Menschen.

Führungskräfte brauchen neues Selbstverständnis

? Inwiefern?

Schori: Von den Führungskräften erfordert die agile Transformation, dass sie ihre Rolle neu definieren und anders als bisher füllen – unter anderem, weil ein Anweisen top-down und enges Steuern und Kontrollieren durch sie nicht mehr erfolgt. Deshalb fürchten viele Führungskräfte an Bedeutung zu verlieren.

? Warum?

von Bergen: Primär, weil die Führungskräfte weder richtig darüber informiert wurden, was die agile Transformation beinhaltet, noch dazu befähigt wurden, in einem agilen Umfeld zu arbeiten.

? Und was bedeutet die agile Transition für die Mitarbeiter?

von Bergen: Sie sollen plötzlich mitdenken und Verantwortung für sich und das Ergebnis übernehmen. Das sind viele nicht gewohnt – unter anderem, weil bisher die gesamte Organisation auf die Führungskräfte ausgerichtet war. Was diese vorgaben, wurde gemacht. Ein agiles Arbeiten erfordert diesbezüglich einen Paradigmenwechsel und eine Einstellungs- und Verhaltensänderung auf allen Hierarchieebenen.

Die Bedeutung der Persönlichkeit steigt

? Sie schulen agile Methoden. Welcher Punkt ist besonders trainingsintensiv?

Schori: Die Beteiligten zur Einsicht zu führen, dass der Wandel bei ihnen selbst beginnt. Dieser Prozess des Bewusst-werdens erfordert Zeit. Und wenn er erfolgt ist, bedarf es Lern- und Übungsfelder, um die neu gewonnene Einstellung und Haltung zu festigen, damit daraus ein dauerhaftes Verhalten wird.

von Bergen: Deshalb legen wir zum Beispiel in unserer Ausbildung zum Agile Coach und Transformation Consultant auch einen großen Wert darauf, die eigene Persönlichkeit bezüglich der agilen Arbeitsweisen und Prinzipien zu reflektieren.

Schori: Und keinesfalls sollte man die kulturverändernde Wirkung einer agilen Arbeitsweise unterschätzen. Wir registrieren in Unternehmen, die agile Teams einführten, immer wieder, dass deren Involvement und Engagement rasch auf benachbarte Bereiche abfärben. Ihr Mindset und ihre Arbeitsweise breiteten sich wie ein Virus aus: Einmal in Gang gekommen, lässt sich dessen Verbreitung kaum mehr aufhalten, mit einem durchaus erwünschten Effekt: Die Teams bekommen wieder Spaß an der Arbeit – und transformieren zu „Highperformance Teams“.

Transitionale Führung gewinnt an Bedeutung

? Was könnte der nächste große Management-Trend sein?

Schori: Durch die neuen Anforderungen an die Führungskräfte sehe ich eine Tendenz, dass das Thema Persönlichkeitsentwicklung in der Wirtschaft salonfähig wird – weil die Unternehmen erkennen, dass ihre Mitarbeiter künftig andere personale Kompetenzen brauchen. Das Arbeiten an der eigenen Persönlichkeit sowie den eigenen Denk- und Verhaltensmustern und Glaubenssätzen ist zwar oft unangenehm, doch Selbstverantwortung verpflichtet auch zur Selbstreflektion.

? Also zu einem Hinterfragen des eigenen Denkens und Handels bezüglich seiner Wirkung?

von Bergen: Ja. Deshalb haben wir mit dem Transition Leadership Programm, kurz TLP, auch ein Format entwickelt, das Führungskräften, das hierfür erforderliche Mindset vermittelt. Ich vermute, dass das Thema transitionale Führung – also „Führung in Changeprozessen, bei denen sich ein Paradigmen- bzw. Musterwechsel in der Organisation vollzieht“ – der nächste Management-Trend wird, denn vor einem solchen Wechsel stehen aktuell viele Unternehmen unter anderem aufgrund der Digitalen Transformation der Wirtschaft.

Das Interview führte Lukas Leist

Über die Interviewten

Katja von Bergen ist Senior Consultant, Lead Coach und Partner bei Dr. Kraus & Partner, Bruchsal.

Beat Schori ist Country Executive und Partner Schweiz  bei Dr. Kraus & Partner

 
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