
Der Fachkräftemangel prägt derzeit die Arbeitswelt. Alle sind betroffen: Als Kunden, wenn wir länger auf Züge, Handwerker oder Termine beim Arzt warten. Als Kollegen, wenn wir überlastet werden und dadurch Stress, Fehler und Krankheitsrisiko steigen. Als Arbeitgeber, wenn Mitarbeiter fehlen, um zu wachsen und sich weiterzuentwickeln. Als Gesellschaft, die der Fachkräftemangel jährlich rund 100 Milliarden Euro kostet.[1]
Die gute Nachricht zuerst: Es gibt trotz Fachkräftemangel genügend Mitarbeiter. Aktuell sind rund 4 von 10 Beschäftigten offen für neue Jobs.[2] Es steht also ein Bewerberpotenzial von über 17 Millionen Beschäftigten zur Verfügung. Bei zwei Millionen offenen Stellen sollte das reichen. Die schlechte Nachricht: Es reicht, aber nicht für jeden. Denn gute Mitarbeiter können sich aussuchen, wo sie hingehen. Solange der Leidensdruck nicht hoch und die Alternativen nicht attraktiv genug sind, bleiben die meisten erst einmal dort, wo sie sind.
Recruiting-Wahnsinn
Immer wieder das Gleiche tun, aber andere Ergebnisse erwarten – so hat Albert Einstein einmal den Wahnsinn definiert. Trotz Fachkräftemangel gibt es Unternehmen, denen es gelingt, neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Sie gehen neue Wege. Personalsuche funktioniert. Nur eben nicht mehr mit den alten Methoden. Doch obwohl sie immer weniger greift, ist und bleibt die Stellenanzeige für viele Unternehmen die erste Wahl. Der einzige Unterschied: Sie erscheint nicht mehr in der Zeitung, sondern auf der Website und in Online-Jobbörsen.
Arbeiten Sie an der Kultur und machen Sie Recruiting zur Chefsache
Dass nur jedes zweite Unternehmen aktiv sucht, liegt paradoxerweise ebenfalls am Fachkräftemangel, denn die aktive Form der Mitarbeitersuche erfordert einen höheren Aufwand. Dreh- und Angelpunkt ist hierbei die Haltung der Führung. Personalgewinnung ist und bleibt Chefsache. Und sollte es auch bleiben, denn:
- Nur wer fachlich nah dran ist, kann bei den immer komplexer werdenden Stellenprofilen erkennen, ob ein potenzieller Kandidat fachlich wirklich geeignet ist, oder nicht.
- Gute Talente werden mit Anfragen von Recruitern überhäuft. Sobald sie sich darauf einlassen, greifen aber wieder die üblichen Prozesse, bei denen sie sich wie eh und je als Bittsteller fühlen. Sie erhalten bei Fragen keine verbindlichen Antworten und erleben, dass die zunächst guten Angebote im späteren Prozessverlauf von höherer Ebene gekippt werden. Von daher reagieren Talente immer seltener auf Recruiter. Schreibt aber die zukünftige Führungskraft, antworten sie. Wer begreift, dass Mitarbeiter die kostbarste Ressource sind und Personalgewinnung zur Chefsache macht, ist übrigens in bester Gesellschaft: Steve Jobs rekrutierte über 1.000 Mitarbeiter höchstpersönlich.
- Wenn der Chef selbst Kontakt aufnimmt, hält das die Prozesse schnell, die Verbindlichkeit hoch und vermittelt Wertschätzung. Fragen können direkt geklärt und die Einstellung vorangebracht werden.
Wenn Talente direkt von der Führung angesprochen werden sollen, bedeutet das nicht, dass diese die ganze Arbeit machen muss. Gut gebriefte Talent Acquisition Manager können zunächst eine Vorauswahl erstellen, die die Führung dann sichtet, um geeignete Kandidaten zu kontaktieren.
Soziale Netzwerke und IT- Tools erleichtern die aktive Suche
Mit kostenpflichtigen Accounts bei Xing und LinkedIn können zunächst die Talent Acquisition Manager auf die Suche gehen und mit differenzierten Begriffen nach potenziellen Kandidaten Ausschau halten. Das hat zwei Nachteile: Erstens machen es so fast alle. Zweitens gibt es immer noch genügend Mitarbeiter, die keine Profile bei den großen Plattformen haben. Bei Xing haben rund 20 Millionen Talente in Deutschland ein Profil, bei LinkedIn 19 Millionen in der DACH-Region.[3] Ein vorhandenes Profil bedeutet jedoch nicht, dass man den Kandidaten auch tatsächlich erreicht. Ein Teil der Profile ist nur selten aktiv. Gewisse Branchen, bzw. deren Mitglieder, haben den Weg auf die Businessplattformen noch nicht oder kaum gefunden. Um auch mit diesen in Kontakt zu treten, hat die Recruiting Software Talentwunder einen Weg gefunden, um die Profile von über 30 Nischen- und Experten-Plattformen aus dem White-Collar-Bereich zu sammeln und so 1 Milliarde Profile verfügbar zu machen. Die Software ist seit 2014 am Markt und hat einige Innovationspreise gewonnen. Talentwunder unterstützt Recruiter durch den Einsatz einer KI, die bei der Suche auch alternative Berufsbilder vorschlägt. Die Software bietet ebenfalls Prognosen zur Wechsel- und Umzugsbereitschaft der Talente.
Künstliche Intelligenz im Active Sourcing
So hilfreich es auch ist, potentielle Kandidaten auf dem oben beschriebenen Weg zu finden: Zugang allein reicht nicht! Um die begehrten Talente zu erschließen, ist eine individuelle Ansprache wichtig. Schließlich scheuen viele Personalverantwortliche den Mehraufwand. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz könnte die Arbeit erleichtern. Ende 2022 häuften sich die Erfahrungsberichte über die KI ChatGPT. Wer die Software zum ersten Mal testet, ist verblüfft: Sie generiert im Handumdrehen fundierte Texte zu beliebigen Themen. Das birgt Chancen, aber auch Risiken. So wie man mit unpersönlichen Standardansprachen kaum Bewerber gewinnen kann, gilt das auch für KI-generierte Ansprachen. Hier gilt das alte SISO-Prinzip: Shit in, Shit out! Wer fit im Thema ist und die KI clever füttert, wird gute Ergebnisse erzielen. Wer sich keine Mühe gibt, bekommt nichtssagenden Einheitsbrei. So macht es einen großen Unterschied, ob man bei der aktiven Suche nach neuen Mitarbeitern der Software den ersten oder den zweiten der folgenden zwei Aufträge gibt:
- „Entwickle bitte einen Text, um Frau Meier für die Stelle Marketing-Assistentin bei Xing anzusprechen und zur Bewerbung aufzufordern.“
- „Entwickele bitte eine prägnante aktive Sourcing Ansprache, um Frau Maier für eine Position als Marketing-Assistentin zu gewinnen. Der Text soll ihr Motiv nach Anerkennung treffen, der AIDA-Formel folgen und einen Cliffhanger nutzen, der ihr Interesse für ein Gespräch mit unserem Recruiter weckt.“
Einstellung ändern: Potenzial und Skills rekrutieren
Viel zu oft scheitert die Personalrekrutierung an überzogenen Anforderungsprofilen und mangelnder Klarheit über die für die Stelle erforderlichen Kompetenzen. Viel zu oft werden Bewerber abgelehnt, die eigentlich eine Stelle ausfüllen könnten, aber nicht hundertprozentig passen. Erfolgreiches Recruiting geht den umgekehrten Weg und fragt nach den notwendigen (d.h. nicht anders möglichen) Qualifikationen, die ein Bewerber mitbringen muss, um die Stelle ausfüllen zu können. Er erhebt mit verschiedenen Stakeholdern die kritischen Ereignisse, von denen es abhängt, ob die Stelle gut oder schlecht besetzt ist. Klassische Berufsabschlüsse können dabei in den Hintergrund treten. Über den Tellerrand hinaus denken. Mit dieser Einstellung hat sich zum Beispiel die chemische Industrie für Köche geöffnet, deren Erfahrung mit Mischungsverhältnissen dort ideal eingesetzt werden kann. Uhrmacher gibt es kaum noch, dafür bringen Zahntechniker 95 Prozent der Fähigkeiten mit, die für mikrometergenaues Arbeiten nötig sind.
Bumerang-Recruiting
Ein Weg, der ganz ohne Technik auskommt, ist, die eigene Einstellung zu ändern und Demut zu entwickeln. Wenn Mitarbeiter kündigen, fühlen sich viele Arbeitgeber abgelehnt, geben sich cool und verabschieden den Mitarbeiter nach dem Motto „Reisende soll man nicht aufhalten“. Aber der letzte Eindruck bleibt. Wer stattdessen ein Austrittsgespräch führt und nach den Gründen für den Wechsel fragt, kann nicht nur etwas ändern und verhindern, dass auch andere gehen. Er kann später sogar versuchen, den ehemaligen Mitarbeiter zurückzugewinnen. Fast jeder Zweite, der ein Unternehmen verlässt, merkt, dass auch anderswo nur mit Wasser gekocht wird, und vermisst vielleicht schon bald seinen alten Arbeitgeber. Chefs, die sich nicht zu schade sind, mit guten Leuten in Kontakt zu bleiben und ihnen zu zeigen, dass man sie gerne wieder an Bord hätte, wissen nicht nur, was sie haben, sondern können auch ihre Rekrutierungskosten erheblich senken.
Wer nicht mit der Zeit geht, geht. Mit der Zeit.
Die Fähigkeit, geeignete Bewerber zu gewinnen, ist für Unternehmen überlebenswichtig. Wenn sich die Zeiten ändern, aber die Rekrutierungsaktivitäten unverändert bleiben, darf man sich nicht wundern, wenn die Ergebnisse schlechter werden. Da es immer mehr Talente gibt, die potenziell wechselbereit sind, sich aber nicht aktiv bewerben, muss die Aktivität von den Unternehmen ausgehen. Am Anfang steht ein Umdenken und die Bereitschaft, sich ehrlich mit den neuen Machtverhältnissen auf dem Arbeitsmarkt auseinanderzusetzen. Was nützt es, ein guter Arbeitgeber zu sein, wenn es keiner weiß? Wie früher im Verkauf gilt: Tue Gutes und rede darüber! Neben der Notwendigkeit, sich als attraktiver Arbeitgeber zu positionieren, erleichtern verschiedene Softwarelösungen die Suche nach neuen Mitarbeitern. Darüber hinaus gibt es auch nicht-digitale Methoden, um Mitarbeiter zu gewinnen. Wichtig ist ein individueller Ansatz, der zur Branche und den zu besetzenden Stellen passt.
[1] https://www.personalwirtschaft.de/news/recruiting/dihk-fachkraeftemangel-kostet-100-milliarden-euro-146828/
[2] https://onlinemarketing.de/karriere/human-resources/hiring-studie-37-prozent-offen-fuer-jobwechsel
[3] https://de.statista.com/themen/746/xing/; https://de.statista.com/statistik/daten/studie/628657/umfrage/linkedin-mitglieder-in-der-dach-region/
Buchtipp: Christian Bernhardt Echte Wertschätzung: Beziehungen stärken. Vertrauen vertiefen. Teams gemeinsam entwickeln.
Über den Autor:
Christian Bernhardt ist Dozent für nonverbale Kommunikation und Kommunikationspsychologie und Experte für Strategien gegen den Fachkräftemangel. Der Fachbuchautor hält Vorträge und Hybrid-Trainings zu den Themen Recruiting und Kommunikationskultur und berät Unternehmen in Deutschland und der Schweiz.