In der von rascher Veränderung geprägten VUKA-Welt müssen Führungskräfte lernen, ihre gewohnten Reiz-Reaktionsmuster – im Denken und Handeln – zu durchbrechen. Mindful Leadership hilft dabei.
„Mir wird alles zu viel. Ich muss in meinem Arbeitsalltag immer stärker darauf achten, dass ich nicht die Contenance und den roten Faden verliere.“ Solche Aussagen hört man im Gespräch mit Führungskräften immer häufiger, denn seit zwei, drei Jahren spüren sie verstärkt: Wir leben in einer von rascher Veränderung und sinkender Planbarkeit geprägten VUKA-Welt (siehe Kasten), in der ich mein Denken und Handeln regelmäßig reflektieren und nicht selten neu justieren muss.
Die oben erwähnte Klage verweist auf drei Bereiche, in denen sich viele Führungskräfte zurzeit gefordert und teilweise überfordert fühlen.
- Bereichsführung: Wie erreiche ich die mir vorgegebenen Ziele, wenn sich die Rahmenbedingungen immer schneller ändern und ich deshalb meine Handlungsstrategien häufiger der veränderten Ist-Situation anpassen muss?
- Mitarbeiter- und Teamführung: Wie bewältige ich mit meinem Team die vielen, oft neuen Herausforderungen in einer Situation, in der sich auch die Zusammenarbeit verändert und die Kommunikation und Kooperation zunehmend digital bzw. virtuell erfolgen?
- Selbstführung: Wie sorge ich dafür, dass ich trotz meines stressigen Arbeitsalltags meinen inneren Kompass und meine (Arbeits-)Zufriedenheit bewahre, sodass ich weiterhin die Zuversicht und Energie habe und ausstrahle, die nicht nur meine Teammitglieder von mir als Führungskraft erwarten?
Die Veränderungen sensibel wahrnehmen
Für das Lösen aller hieraus sich ergebenden Aufgaben benötigen Führungskräfte eine hohe Sensibilität – und zwar für die Veränderungen,
- die sich im Umfeld ihres Verantwortungsbereichs vollziehen – zum Beispiel aufgrund des Ukraine-Kriegs, des Klimawandels, der Covid-Pandemie, der Inflation,
- die sich bei ihren Mitarbeitern und in der Zusammenarbeit vollziehen – zum Beispiel aufgrund des verstärkten Arbeitens im Homeoffice, des Generationswechsels in der Belegschaft, des immer stärker spürbaren Fachkräftemangels,
- die sich bei ihnen selbst (im Denken und Handeln) vollziehen – zum Beispiel aufgrund der Entwicklung der (Welt-)Wirtschaft, der steigenden Unsicherheit und sinkenden Planbarkeit, des erhöhten Changebedarfs, des gestiegenen Handlungsdrucks.
Die gewohnten Reiz-Reaktionsmuster durchbrechen
Für dieses bewusste Wahrnehmen der vielfältigen Veränderungen, um darauf als Führungskraft angemessen zu reagieren, hat sich im angelsächsischen Raum der Begriff Mindful Leadership etabliert, der auf Deutsch „Achtsame Führung“ bedeutet. Der Kernbegriff bei diesem Leadership-Konzept lautet „Mindfulness“, also Achtsamkeit. Er bezeichnet eine besondere Form der Konzentration, bei der man bewusst wahrnimmt, was im Moment geschieht – und zwar ohne das Wahrgenommene zunächst zu bewerten, unter anderem um nicht automatisch in die gewohnten Reiz-Reaktionsmuster zu verfallen.
Ein Vordenker in diesem Bereich war Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn. Er entwickelte vor knapp 50 Jahren an der University of Massachusetts Medical School in Worcester das Trainingsprogramm MBSR (Mindfulness Based Stress Reduction). Es hat zum Ziel, nachhaltig besser mit Stress und den Herausforderungen im Leben umzugehen. Das Programm und Modifikationen von ihm werden seitdem weltweit erfolgreich angewendet. Wissenschaftliche Untersuchungen belegen die positiven Wirkungen solcher Trainingsprogramme auf der psychologischen und neuronalen Ebene. Das heißt, im Programmverlauf verändern sich auch die Gehirnstrukturen der Teilnehmer positiv.
Die Fähigkeit zur Selbststeuerung erhöhen
Im Zentrum der Programme steht die Entwicklung der Selbststeuerungsfähigkeit der Teilnehmer durch eine bewusstere Wahrnehmung der Prozesse, die sich in ihrem Umfeld und ihnen selbst vollziehen. Durch eine erhöhte Präsenz im Moment soll ermöglicht werden, sensibler wahrzunehmen, was im eigenen Bewusstsein geschieht, um so unbewusst wirkende Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster zu erkennen und diese bei Bedarf außer Kraft zu setzen.
Durch ein solches Bewusstseins-Management, so die begründete Annahme, entsteht der Raum für etwas Neues, also zum Beispiel ein der Situation angemesseneres Verhalten, da zwischen dem Reiz und der Reaktion eine kleine Zeitspanne vergeht. In ihr haben nicht nur Führungskräfte die Möglichkeit, ihre Antwort bzw. Reaktion auf den Reiz bewusst zu wählen. Das kann im Bereich Bereichs- und Betriebsführung zum Beispiel bedeuten, dass einer Führungskraft bewusst wird, dass man als Manager, wenn sich das Umfeld permanent ändert, weitgehend „auf Sicht fahren“ muss – selbst wenn man gerne einen langfristigen Plan zum Abarbeiten hätte. Im Bereich Mitarbeiter- und Teamführung kann dies bedeuten, dass einer Führungskraft bewusst wird, wenn sie bei ihren Mitarbeitern Widerstände gegen Veränderungen spürt, dass auch diese verunsichert sind – weshalb es wenig zielführend ist, Druck auf sie auszuüben. Und im Bereich Selbstführung? Hier kann dies bedeuten, dass einer Führungskraft bewusst wird, dass es gerade in Stress-Situationen oft wichtig ist, mal einen Gang runter zu schalten, um nicht in einen blinden Aktionismus zu verfallen. Mit anderen Worten formuliert: Eine erhöhte Achtsamkeit ermöglicht es uns, unsere gewohnten Denk- und Verhaltensroutinen sowie Reiz-Reaktionsmuster zu durchbrechen und ein zielführenderes Verhalten zu zeigen.
Die Achtsamkeit der Führungskräfte fördern
Diese Fähigkeit zur Selbstreflexion sollten Unternehmen bei ihren Führungskräften fördern, denn dann nehmen sie ihre Führungsaufgaben wirkungsvoller wahr. Das erkannte Google bereits 2007 und etablierte unternehmensweit ein Programm namens „Search inside yourself“: eine Art Achtsamkeits-Programm. Inzwischen bieten auch viele Unternehmen in der DACH-Region ihren Führungskräften solche Trainings- und Coachingprogramme an, denn: Die Nebenwirkungen eines zu gering ausgeprägten selbst-reflexiven Führungsverhaltens können für Unternehmen teuer werden. Studien belegen zum Beispiel seinen negativen Einfluss auf
- die Zufriedenheit und das Engagement der Mitarbeiter,
- ihre Identifikation mit der Arbeit und Bindung ans Unternehmen,
- ihre Veränderungsbereitschaft sowie
- die Qualität der entwickelten Problemlösungen.
Durch ein achtsamkeit-orientiertes Leadership-Programm kann also nicht nur das Stressniveau der Führungskräfte gesenkt werden, es werden auch viele positive Wirkungen für den Unternehmenserfolg erzielt.
Die positiven Wirkungen einer erhöhten Achtsamkeit
Genannt seien folgende positiven Effekte.
Unternehmen:
- eine höhere Produktivität aufgrund einer effektiveren Führungsarbeit,
- eine höhere Motivation und Zufriedenheit im Team,
- eine verbesserte Work-Life-Balance und weniger Fehltage,
- eine höhere Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft
- eine qualitativ höherwertige (Projekt-)Arbeit aufgrund eines vernetzteren und proaktivieren Handeln,
- eine geringere Fluktuation aufgrund eines mitarbeiterorientierten Betriebsklimas.
Führungskräfte:
- eine verbesserte Selbst- und Fremdwahrnehmung,
- eine höhere Empathie und Netzwerk-Kompetenz,
- die Konzentrationsfähigkeit, Intuition und Kreativität steigen,
- die Resilienz und Fähigkeit, äußerem Druck standzuhalten, steigen,
- ein konstruktiverer Umgang mit Misserfolgen,
- ein proaktiveres Verhalten und eine höhere Changekompetenz,
- ein flexiblerer Umgang mit (neuen) Herausforderungen,
- eine stärkere Fokussierung der Führungskraft und höhere Wirksamkeit als Person.
Bessere Führung durch eine bessere Selbstführung
Vor ein, zwei Jahrzehnten war das Thema Achtsamkeit noch primär ein individuelles Coaching-Thema. Inzwischen ist vielen Unternehmen bewusst: Achtsamkeit ist in der VUKA-Welt ein wichtiger Erfolgsfaktor beim Führen, denn Mindful Leadership ermöglicht es,
- herausfordernde Situationen und Konstellationen neu wahrzunehmen und
- für sie neue, kreative Problemlösungen und Verhaltensweisen zu entwickeln.
Die Basis für eine achtsame Führung ist eine bewusste Selbstführung. Achtsame Führungskräfte sind sich ihrer Selbst und Werte sowie Einstellungen und Triebfedern bewusst. Dieses Selbst-Bewusstsein, das auch eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirkt, fällt nicht vom Himmel. Sein Entstehen erfordert Zeit und ist das Resultat eines regelmäßigen (Ein-)Übens.
Routinen der (Selbst-)Reflexion einüben
Der Schlüssel zum Erfolg ist eine eigene vertiefte Achtsamkeitspraxis. Das heißt: Führungskräfte sollten sich zum Beispiel täglich 20 Minuten Zeit dafür nehmen,
- ihre Wahrnehmung von sich selbst und ihrer Umwelt sowie
- ihre Sensibilität auch für schwache Veränderungssignale
zu trainieren – zum Beispiel durch eine gezielte Meditation. Ob dieses In-sich gehen und Sich-besinnen bzw. Meditieren zuhause im stillen Kämmerchen oder beim Spazieren-gehen im Wald geschieht, ist sekundär; wichtig ist, dass es zu einer täglichen Routine wird.
Gute, das heißt wirksame Führung ist primär eine Frage der Qualität der dem Handeln zugrunde liegenden Bewusstseinsprozesse. Deshalb sollte ein Mindful-Leadership-Programm genau dort ansetzen: nämlich bei der Fähigkeit der Teilnehmer zu einer bewussten Selbststeuerung und -führung. Aus dem achtsamen Umgang mit sich selbst können sie dann Handlungsprinzipien für ihren Führungsalltag ableiten.
Über die Autorin:
Barbara Liebermeister leitet das Institut für Führungskultur im digitalen Zeitalter (IFIDZ), Frankfurt. Ende August erscheint im GABAL-Verlag das neuste Buch der Vortragsrednerin und Managementberaterin „Die Führungskraft als Influencer: In Zukunft führt, wer Follower gewinnt“.