In einer Zeit, in der heute alles anders ist als gestern, und morgen vieles anders als heute, sind oftmals schnelle Entscheidungen gefragt. Treffen wir sie, soll aufgrund der mangelnden Zeit natürlich trotzdem die Qualität nicht leiden. Auch, wenn wir meist erst später abschätzen können, ob eine unserer großen oder kleinen „decisions“ richtig oder falsch, besser oder schlechter war. Von einem Gedanken müssen wir uns komplett verabschieden: Dass wir im Rahmen von mehr Selbstorganisation in horizontalen Strukturen und mit flexiblen Rollen einfach nur mehr Menschen in die Entscheidungsfindung einbeziehen müssen. Dabei entsteht weder ein Ergebnis, mit dem alle glücklich und zufrieden sind, noch sind die mit einem derartig vermeintlichen Konsens einhergehenden „verwässerten“ Kompromisse zielführend und nachhaltig.
Es ist noch nicht lange her, da folgte B unweigerlich auf A. In dieser Zeit half uns lineares Denken und Tun. In dieser Zeit konnten wir Entscheidungen abwägen. In dieser Zeit hatten wir Zeit dafür. Heute ist die Grundlage eine andere. Die Entscheidungswege sind komplexer und zugleich ist alles drum herum schnelllebiger geworden. Genauso wie unsere Welt. Der Informations-Overload und die wachsende Herausforderung, Fakten von Fake-News zu unterscheiden. Ein unüberschaubares (virtuelles) Netzwerk und unberechenbare globale Krisen. All das stürzt uns täglich in eine neue, zum Teil irrationale Wirklichkeit, die es nicht nur schwer, sondern manchmal unmöglich macht, uns überhaupt zu entscheiden, geschweige denn gute Entscheidungen zu treffen. Das Problem ist, dass, wie immer unsere Entscheidung auch ausfällt, diese sich schon wenige Minuten danach als falsch herausstellen, oder nach einiger Zeit zu nicht erwünschten Ergebnissen führen kann. Verunsicherung und fehlender Mut sind die Folge. Beides trägt gerade bei Unternehmern und Führungskräften nicht dazu bei, entscheidungsstärker zu werden. Dabei müssen wir heute mehr denn je genau diese Entscheidungsstärke besitzen.
„Faule“ Kompromisse, Chaos, Dynamiken und eine gemeinsame Ausrichtung
Zum Glück gibt es den Ruf nach mehr Mitbestimmung! Warum also nicht einfach die Mitarbeitenden, die mehr Beteiligung fordern, in Entscheidungsfindungen einbeziehen? Klingt gut! Ist es aber nicht! Versucht man wirklich alle Meinungen „unter einen Hut“ zu bringen, gibt das meistens mehr oder weniger „faule“ Kompromisse, mit denen keiner so richtig glücklich ist – auch, wenn das oft niemand offen aus- und anspricht. Spannend in diesem Zusammenhang auch der Einfluss Vieler auf Innovationen. Je mehr Experten in die Entscheidungsfindung involviert sind, desto weniger Innovationen gibt es. Warum ist das so? Wirkliche Innovationen, sozusagen bahnbrechende Neuerungen, sind am Anfang immer ein klein wenig – manchmal auch mehr – verrückt! Befragt man also 20 Menschen dazu, wird man unzählige Meinungen, viele verschiedene Für und Wider, aber nur selten eine klare Mehrheit haben. Gründer von Startups entscheiden dagegen oft alleine – manchmal aus dem Bauch heraus – und glauben fest an das Gelingen. So entsteht Innovation!
Unternehmen mit einem hohen Grad an Selbstorganisationen wissen um das Chaos und die zugleich herausfordernden und notwendigen Dynamiken und Spannungen, die aus mehr Freiheit und Selbstmanagement entstehen. Trifft Autonomie auf ein Linien-Denken, das im Kopf vieler Führungskräfte durchaus noch vorhanden ist, wird eine ausbalancierte Entscheidungsfindung schwierig. Auf der anderen Seite lässt sich durch ein gutes Entscheidungsmanagement schnell etwas verändern und erreichen – intern, beispielsweise bei der strategischen Ausrichtung oder bei Prozessen, wie extern, wenn es um neue Projekte oder besondere Kunden(-wünsche) geht. Selbstorganisation hin oder her, natürlich ist jede Entscheidung von deren Auswirkungen bzw. dem Risiko auf der einen und dem erwarteten Ergebnis auf der anderen Seite abhängig. Dementsprechend sollten auch die sogenannten Genehmigungszonen definiert sein: Ist das Risiko sehr hoch (approval zone), z.B. wenn es um rechtliche Dinge geht, trifft auch in einem ansonsten selbstorganisierten Unternehmen nur der Entscheidungsträger die Entscheidung. Der Geschäftsführer ist persönlich für gewisse Dinge haftbar, insofern ist es schon sinnvoll, die Person einzubeziehen. Oder in Großunternehmen, in denen es „nur“ selbstorganisierte Inseln gibt, bleibt die Verantwortung beim Niederlassungsleiter, der BU-Leiterin etc. Ist umgekehrt das Risiko gering und betrifft Entscheidungen, die in das jeweilige Aufgabengebiet fallen (no approval zone), ist der Activity Owner der einzig sinnvolle Entscheidungsträger, der dann allerdings auch die volle Verantwortung übernimmt. Dazwischen liegt ein Bereich, in dem Gespräche und ein Gedankenaustausch wichtig sind und gesucht werden müssen (advice seeking zone). Ein solider Beratungsprozess ist hier notwendig, um zu einer fundierten und guten Entscheidung zu kommen. Im Idealfall werden in einer agilen Organisation fällige Entscheidungen so nah wie möglich an die Position bzw. Rolle delegiert, bei der das (Fach-)Wissen dafür vorhanden ist. Autorität, Verantwortung und Rechenschaftspflicht werden ebenfalls an diese Person übertragen.
Decision Making Modes: Schlüssel für mehr Agilität
Ob Entscheidungsfindung im Konsens, der Mehrheitsbeschluss, die autokratische Einzelentscheidung oder Entscheidungsfindung mit Zustimmung – es gibt unterschiedliche „Decision Making Modes“, die in verschiedenen Situationen durchaus ihre Berechtigung haben und zum Tragen kommen. Es unterscheiden sich dabei übrigens nicht nur die Art und Anzahl der beteiligten Personen, sondern auch die Eigenschaften (langsam/schnell u.a.):
Konsensorientierte Organisationen sind bei der Entscheidungsfindung ziemlich langsam. Die meiste Zeit endet es mit einem verwässerten Kompromiss statt der bestmöglichen Lösung. Sucht man nach Alternativen für eine effektivere und effizientere Entscheidungsfindung, sind Abstimmungen eine davon. Vor allem Einzelentscheidungen können sehr agil sein. Gut fallen sie dann aus, wenn eine Voraussetzung erfüllt ist: Menschen zu befähigen bedeutet, ihnen beizubringen, wie sie Entscheidungen treffen können und sich selbst zuzutrauen, dass sie es tun. Die einzelnen Entscheidungsträger werden über ihre Rollen und Verantwortlichkeiten identifiziert. So gehört zur Beschreibung jeder Rolle ein Abschnitt „Entscheidungsbefugnis“, um deutlich zu machen, was diese Rolle entscheiden kann und soll (mit oder ohne Beratung).
Das „Wundermittel“ – The Magic Bullet – der Entscheidungsfindung ist übrigens der Konsent, allerdings nicht so, wie ihn viele kennen! Anstatt nur (Gegen-)Stimmen zu zählen, sollte nach Einwänden, vor allem nach erheblichen Risiken oder anderen erheblichen Einwänden gefragt werden. Auf diese Weise beschleunigt sich die Entscheidungsfindung, lange Diskussionen werden verkürzt und gleichzeitig wird sichergestellt, dass die blinden Flecken der Entscheidungsträger nicht übersehen werden. Wir alle haben diese „blinden Flecken“. Vielleicht sind wir uns des großen Risikos, das mit unserer Entscheidung einhergeht, nicht bewusst? Während des Zustimmungsprozesses wird es zur Sprache kommen, wenn z. B. Teamkollegen ihre Einwände vorbringen können. Wenn es keine Einwände gibt oder alle Einwände ausgeräumt sind, wird der Vorschlag genehmigt und die Entscheidung getroffen – ohne langwierige Diskussion darüber, ob dem Chef oder der Führungskraft das gefällt oder ob er es anders machen würde. Einen guten Leitfaden inkl. Formulierungshilfen hinsichtlich der Entscheidungsfindung via Einwilligung (Consent Decision Making) bietet der praktische Leitfaden zur Soziokratie 3.0[1] In diesem (erleichterten) Gruppenprozess heißt es: Einwände einholen und Informationen und Wissen berücksichtigen, um Vorschläge oder bestehende Vereinbarungen weiterzuentwickeln. So schafft man neue Ansätze und Innovationen!
Verteilte Entscheidungsfindung: Empowerment als wichtige Grundlage
Frust am Arbeitsplatz wird oft ausgelöst durch fehlende, mangelhafte oder nicht klar geregelte Entscheidungsbefugnis. Oft entscheiden „die da oben“ ohne Einsicht in das, was sich am Ort des Geschehens, also dem jeweiligen Arbeitsumfeld tatsächlich abspielt. Diejenigen, die ganz nah dran sind (und wüssten, was wichtig ist, benötigt wird), dürfen meist keine Entscheidungen treffen. Der einzige Weg aus diesem Dilemma ist die verteilte Entscheidungsfindung, d.h. die Entscheidungsfindung ist dezentral und fällt abhängig vom Risiko dem jeweiligen Rolleninhaber zu, der sich bei Bedarf Beratung einholt. Grundlage und wichtige Voraussetzung dafür ist Empowerment. Nur wenn Mitarbeiter dazu ermächtigt sind, zu entscheiden, werden sie es auch tun und können so die bestmögliche Wahl hinsichtlich Qualität, Kosten und Zeit treffen.
Erkenntnisse und Tipps für die agile Entscheidungsfindung
Seien Sie sich im Klaren über…
- den Entscheidungsträger.
- den Inhalt und stellen Sie sicher, dass Sie genügend Informationen für die Entscheidung selbst sammeln.
- den Entscheidungsprozess; er sollte zweckdienlich sein und sich auf den Inhalt der Entscheidung stützen.
Versuchen Sie,
- den Vorschlag in einem Zustimmungsprozess nicht zu sehr auszuarbeiten, es gibt immer noch Raum für Änderungen; Fokus auf Leitplanken und Vorgehensweisen statt allzu konkreter Pläne.
- während des Entscheidungsprozesses genügend Raum für Fragen zu geben. Die Menschen sollten in der Lage sein, den Vorschlag vollständig zu verstehen, aber lassen Sie nicht zu, dass man sich im Kreis dreht. Wenn die Entscheidung getroffen ist, ist sie getroffen!
- sich damit abzufinden, dass etwas schief gehen kann – aus Fehlern lernt man!
Entscheidungsfindung erfordert:
- Identifikation und Selbstdefinition jeder Einheit, um das Entscheidungswissen auf das System zu übertragen.
- Selbstreflexion über die Absicht, wenn man eine Entscheidung trifft.
- Richtiges Sammeln von Daten und Verarbeiten von Informationen, um dann auch dem Bauchgefühl Raum geben zu können.
- Identifizierung mit der Art und Weise, wie und dass Entscheidungen jedes Mal (anders) getroffen werden.
Zu guter Letzt sollten sich Führungskräfte vor Augen halten, dass eine effektive und effiziente Entscheidungsfindung immer bei ihnen selbst beginnt!
Fazit: Entscheidungsfindung ist einer der Schlüsselaspekte für agile Organisationen. Mit der Entscheidungsfindung fördern Unternehmen die tatsächliche oder vermeintliche Autonomie von Teams, die Befähigung von Einzelpersonen, und können damit sogar psychologische Sicherheit und Vertrauen schaffen. Besser noch, die Entscheidungsfindung ist der größte Faktor für die Steigerung von Effizienz und Effektivität auf dem Weg zur Agilität. Oder wie Theodore Roosevelt, der 26. amerikanische Präsident gesagt hat: „In jedem Moment der Entscheidung ist das Beste, was Sie tun können, das Richtige, das Nächstbeste ist das Falsche, und das Schlimmste, was Sie tun können, ist nichts.“ So let’s decide!
[1] https://patterns.sociocracy30.org/consent-decision-making.html
Über den Autor:
Timm Urschinger ist Mitgründer und CEO von LIVEsciences. Nach dem Studium sowie einigen Jahren bei einem bekannten Pharma-Konzern in der Schweiz und im Consulting beschloss er ein eigenes Unternehmen zu gründen. Seine Erfahrung im Management globaler Programme und Transformation hat in ihm die Leidenschaft geweckt, pragmatische und innovative Lösungen zu entwickeln – für das eigene Unternehmen und für Kunden. Neue Organisationsmodelle wie Teal spielen dabei eine ebenso große Rolle wie die Selbstführung und dass Menschen endlich wieder Sinn und Spaß im Berufsleben erfahren.
Toll, das setze ich direkt in der nächsten Teamrunde um!
LG