Burnout oder „nur“ Hörstress?

Lesedauer: 3 Minuten

Erschöpft, abgeschlagen, k.o. = Arbeitsüberlastung, Burnout?

Eine Gleichung, die so nicht aufgeht. Und weit zu einfach wäre. Keine Frage: Die (Arbeits-)Welt fordert uns – täglich und schnelllebiger als je zuvor. Jeder, egal ob Führungskraft oder „normaler“ Mitarbeitender, will beziehungsweise muss ein Stück weit funktionieren. Und selbst zuhause warten Haushalt, Einkauf oder familiäre Verpflichtungen … Der eigene Anspruch tut oft sein Übriges.

Was aber, wenn der Kern der Erschöpfung, der Ursprung des inneren Gefühls von Leere, das Ausgebranntsein, gar nicht von psychischer Seite rührt, sondern vielmehr unser Gehör Ausgangspunkt wäre? Tatsächlich kann Hören Stress verursachen. Vor allem dann, wenn Ohren und Gehirn nicht mehr perfekt zusammenarbeiten …

Ohr und Gehirn – ein ständig aktives Team

Hören dient im ersten Zug der Aufnahme von akustischen Reizen. Aber: Hören bedeutet so viel mehr. Das menschliche Gehör ist Dreh- und Angelpunkt der zwischenmenschlichen Kommunikation und dadurch das psychologisch bedeutsamste Sinnesorgan. Ohr und Gehirn treten dabei als leistungsstarkes Team auf – wir hören mit den Ohren, verstehen aber erst durch die kognitive Leistung des Gehirns. Unsere Ohren nehmen alle akustischen Informationen auf und verstärken diese, im Gehirn findet die Interpretation des Gehörten statt. Wie ein Hochleistungscomputer filtert und sortiert es, um relevante Hörinhalte zu betonen und Irrelevantes auszublenden. Diese Filterfunktion schützt uns vor einer permanenten akustischen Überforderung. Und das 24/7! Unser Gehör ist ständig aktiv, selbst im Schlaf.

Wenn Hören stresst – Symptome erkennen

Die permanente Verarbeitung von Hörinformationen beansprucht unser Gehirn massiv. Ist der akustische Input permanent hoch und sind wir gleichzeitig emotional unter Druck, ist irgendwann eine Grenze erreicht: Es entsteht Hörstress. Funktioniert das Gehör nur noch vermindert – gerade im Anfangsstadium oft unbemerkt –, tritt dieser Punkt noch früher ein.

Ein gesundes Gehör kann bis zu 70 % der Hörinformationen ausblenden, sodass nur 30 % bewusst verarbeitet werden müssen. Dadurch sind wir relativ gut vor Überbelastung geschützt. Lässt das Hörvermögen nach, werden irrelevante Inhalte nicht mehr so effektiv ausgeblendet und Betroffene können sowohl schlechter hin- als auch schlechter weghören. In den meisten Fällen ist das ein schleichender Prozess, bei dem sich die Wahrnehmung der Hörumgebung minimal, jedoch stetig verändert. Diese Veränderungen sind zunächst nicht groß genug, um tatsächlich registriert zu werden oder die Hörminderung äußert sich anders als erwartet (z. B. indem die Hörumgebung undeutlicher statt leiser wahrgenommen wird). Oft tritt bei akustischer Überbelastung zudem ein Ohrgeräusch auf, welches den psychischen Druck zusätzlich erhöhen kann.

Betroffene tun sich gerade zu Beginn schwer, die Symptome passend zuzuordnen – früher oder später resultiert die existierende Höreinschränkung jedoch in zunehmend schlechterer Wahrnehmung von Hörinhalten, einer beeinträchtigten Aktivität der Hörfilter und dadurch in vermindertem Sprachverstehen. Die Folge: Betroffene Personen müssen immer genauer hinhören und nachfragen, um etwas zu verstehen, vor allem in geräuschvollen Umgebungen. Das strengt nicht nur an, sondern versetzt den Körper in einen Stresszustand, weil das Gehör permanent zusätzliche kognitive Ressourcen und eine höhere Konzentrationsfähigkeit abruft.

Das „Ich“ potenziert

Hinzu kommt häufig emotionaler Stress: Eigene Einstellungen, Erwartungen und Befürchtungen erzeugen negative Gefühle. Betroffene haben nicht selten Angst davor, dass andere schlecht über sie denken. Sie wollen nicht noch einmal nachfragen oder fürchten den vermeintlichen gesellschaftlichen Makel, wenn ihr Hörvermögen nachlässt. Derartige negative Grundannahmen führen zu hohen sozialen und emotionalen Belastungen, die sich auf psychischer Ebene nachteilig auswirken und sogar krank machen können – bis hin zu burnoutähnlichen Zuständen.

Sich eine vermeintliche Schwäche einzugestehen, bedarf persönlicher Stärke. Im Fall einer eintretenden oder fortgeschrittenen Hörminderung gleich doppelt: Neben der grundsätzlichen Angst oder dem Hemmnis vor Veränderung, haftet Hörverlust oder Schwerhörigkeit zusätzlich ein völlig überholtes gesellschaftliches Stigma an. Entgegen einer Brille, die nicht nur als Sehhilfe, sondern ebenso als modisches, gar hippes Accessoire gilt, bewirkt ein Hörgerät, dass dessen Träger schnell „abgestempelt“ und Schwerhörigkeit zum Tabuthema wird! In Konsequenz ignorieren Betroffenen so lange wie möglich ihren Hörverlust, was das Problem jedoch lediglich verschlimmert.1

Jeder Fünfte ist betroffen

Dabei stehen Betroffene nicht alleine da. Eine Studie der Jade Hochschule in Oldenburg ergab, dass ausgehend von der Bevölkerungsstatistik 16,2 Prozent der Erwachsenen in Deutschland an einer Hörminderung leiden. Das sind insgesamt 11,1 Millionen Menschen. Jährlich sollen zudem 150.000-160.000 Betroffene hinzukommen, so die Prognose der Studie.[1] Auch andere Untersuchungen kommen zu gleichen oder ähnlichen Ergebnissen.[2]

Schnelltest: Hörminderung als Ausgangspunkt für Hörstress

Wenn Sie mindestens eine der nachfolgenden Fragen mit Ja beantworten können, sollten Sie Ihr Gehör überprüfen lassen und sich Gewissheit verschaffen.

  • Fühlen Sie sich in Gesprächssituationen durch Nebengeräusche gestört?
  • Haben Sie den Eindruck, das Gesagte Ihres Gegenübers in lauter Umgebung, wie z. B. einer Messe, Großraumbüro oder Restaurant, schlecht zu verstehen?
  • Denken Sie öfter, dass Ihre Gesprächspartner nuscheln?
  • Lässt Ihre Konzentration in Gruppengesprächen schnell nach?
  • Lässt Ihre Aufmerksamkeit gegen Ende des Tages sehr stark nach?
  • Haben Sie Ohrgeräusche (Tinnitus)?

[1] von Gablenz, P. & Holube, I., 2015. Prävalenz von Schwerhörigkeit im Nordwesten Deutschlands, Ergebnisse einer epidemiologischen Untersuchung zum Hörstatus. HNO, Band 63, S. 195-214.

[2] Lazarus, H. et al., 2007. Akustische Grundlagen sprachlicher Kommunikation. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag.

Über die Autorin:

Terzo_Dr. Christina HeinischDr. Christina Heinisch arbeitet seit 2009 im Bereich der therapeutischen Hörakustik. Ihr Wissen zur Hörgesundheit teilt sie auch in Workshops mit Fachpersonal und Betroffenen.

 
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